Die Dezivilisierung der Gesellschaft

Zwei bemerkenswerte Bücher beleuchten, wie groß die neue Kriegsgefahr ist

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„Frieden!“ lautete das Titelthema der NATURFREUNDiN 2-19. Beleuchtet wurde, wie und warum die Welt in neuer Kriegsgefahr schwebt. Nun sind zwei Bücher erschienen, die das Thema vertiefen: Eines davon herausgegeben von Michael Müller, dem Bundesvorsitzenden der NaturFreunde Deutschlands.

Die Weltlage ist besorgniserregend: mehr als dreißig Kriege und bewaffnete Konflikte rund um die Erde, fortschreitende Militarisierung, Steigerungen bei den Rüstungsausgaben, das Wiederaufleben des Kalten Krieges und neue Bedrohungen durch Terrorismus und Cyberattacken. Dazu kommen ökonomische, soziale und ökologische Konflikte.

Der bedrohte Frieden

„Wir melden uns zu Wort, weil wir den Frieden bedroht sehen“, schreiben die Herausgeber Peter Brandt (Professor für Neuere und Neueste Geschichte), Reiner Braun (Co-Präsident des Internationalen Friedensbüros) und Michael Müller. In zwei Aufrufen, die sie dem Sammelband Frieden! Jetzt! Überall! voranstellen, fordern sie „Abrüsten statt Aufrüsten“ und eine „neue Friedens- und Entspannungspolitik“. Dabei beziehen sie sich immer wieder auf Willy Brandt, der unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ Wegbereiter für die Beendigung des Kalten Krieges war.

Die folgenden Stimmen aus Politik, Gewerkschaften, Wissenschaft, Medien und der Friedensbewegung nähern sich – ausgehend von einer historischen Einordnung der aktuellen politischen Entwicklungen – aus vielen verschiedenen Blickwinkeln der Frage, wie das internationale Zusammenleben „zivilisiert“ werden könnte. Themenschwerpunkte sind beispielsweise alte und neue Kriegsgefahren, die sicherheitspolitischen Folgen des Klimawandels, die Rolle Europas und die Beziehungen zu Russland. Die Liste der Autor*innen ist beeindruckend: von der SPD-Spitzenfrau Katarina Barley und DGB-Chef Reiner Hoffmann über Ernst Ulrich von Weizsäcker bis hin zu Michail Gorbatschow.

Die einzelnen Beiträge sind eine abwechslungsreiche, anregende Mischung aus politischen Positionen und Forderungen, Gesellschaftsanalysen und persönlichen Meinungen. Es wird deutlich, dass Frieden nicht nur ein Zustand ist, der zwischen Staaten ausgehandelt wird, sondern dass es für einen dauerhaften Frieden gesellschaftliche Veränderungen hin zu mehr Nachhaltigkeit, sozialer und ökologischer Gerechtigkeit braucht – national wie international.

Das Buch Frieden! Jetzt! Überall! ist ein engagiertes Plädoyer für den Versuch, Lösungen zu finden und eine Aufforderung an die Zivilgesellschaft, sich einzumischen – eine starke Friedensbewegung ist notwendig. Das zweite Buch Der gewaltsame Lehrer stammt von Dieter Langewiesche. Der renommierte Historiker geht der wiederkehrenden Frage nach: Warum halten Menschen immer wieder Krieg für unverzichtbar, um ihre Ziele zu erreichen?

Aus der Geschichte lernen

Peter Brandt, Reiner Braun, Michael Müller (Hrsg.): Frieden! Jetzt! Überall! – Ein Aufruf; 336 Seiten; Westend Verlag, Frankfurt, 2019; ISBN 9783864892493; 22 Euro.

Dieter Langewiesche: Der gewaltsame Lehrer – Europas Kriege in der Moderne; 512 Seiten, 54 Abbildungen. 9 Karten, Hardcover; Verlag C.H. Beck, München, 2019; ISBN 9783406727085; 32 Euro.

Wer den Krieg aus der Politik verbannen will, tut Langewiesche zufolge gut daran, sich mit den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Europa seit Beginn des 18. Jahrhunderts zu beschäftigen. Das Buch beginnt mit den Arbeiten von Immanuel Kant, der in der kriegsmächtigen Zeit der Französischen Revolution und Napoleons darüber nachsann, wie Staaten ihre Beziehungen zueinander gestalten sollten, um friedensfähig zu werden – bis heute aktuell.

Mit Bezug auf die Kriege der jeweiligen Zeit und ihrer gesellschaftspolitischen Einbettung wird dann ein breiter Bogen geschlagen: von der napoleonischen Ära und dem Europa des Wiener Kongresses über den Zeitraum des Ersten und Zweiten Weltkrieges – auch als Zeitalter der Extreme bekannt – bis zum „Krieg gegen den Terror“ als einer neuen Form des über die Grenzen Europas hinausgetragenen Krieges. Dieter Langewiesche analysiert Strukturen und Muster der Gewalt.

Kriege kennen in sich keine Grenzen

Die Tatsache, dass das Buch den Leser*innen eine überdurchschnittliche kriegspolitische Interpretationsfähigkeit abverlangt, ist zwar kritikwürdig. Doch die zentrale Schlussfolgerung ist unübersehbar: Kriege kennen in sich keine Grenzen. Sie steigern die Gewalt und führen letztlich zur Dezivilisierung der Gesellschaft. Gerade in Zeiten, in denen die Erhöhung der europäischen Rüstungsausgaben als „alternativlos“ hingestellt wird, ist es dieser gut begründete Erkenntnisgewinn, der das Buch Der gewaltsame Lehrer lesenswert macht.

Marion Andert / Joachim Nibbe