Werwölfe und Wildwasser

Teilnehmerbericht: Familien-Outdoorcamp 2015 in Šobec, Slowenien

Prolog

Ich will nur noch hier raus*
„Sag mal, braune Bullis mit Kennzeichen Wunsiedel – davon gibt’s doch nicht so viele, oder?“
Wir sind auf der Tauernautobahn, kurz vor Österreichs Ende.
„Fahr doch mal dichter – hey, das ist Annes Fahrrad! Das sind sie, das sind sie! Gib Gas, Mama!“
Erster Überholversuch.
„Mist! Nochmal“
Zweiter.
„155 Sachen, mehr geht nicht – wir sind voll beladen!“
„Das schaffst du! - Juchuu“
Auf dem nächsten Rastplatz fallen vier Kichererbsen zwischen 11 und 13 einander in die Arme. Ein Jahr haben sie einander nicht gesehen. Jetzt sind sie fast wieder da – in Šobec beim Outdoorcamp. Endlich!

Ich hab meine Sachen gepackt – ich hau‘ rein
Zwei Tage später: Zelte und Wohnwagen sind aufgebaut, Hängematten gespannt. Glücklicherweise ist der Platz halbwegs schattig. Im Hintergrund brummen die Kühlboxen. Sie haben viel zu tun – es soll eine heiße Woche werden. „Wir werden vor allem viel am, auf und im Wasser sein“, erklärt Ausbilder Markus Schmid den 60 Teilnehmenden. Alte und neue Gesichter. Luise (3) diesmal die jüngste Teilnehmerin, Oskar (73) der älteste, war schon ein paarmal da. Gespannte Ruhe beim Blick auf die Infotafel, unserem täglichen Treffpunkt für die Planung der nächsten Tage. Trotz Hitze - wir wollen uns bewegen: Klettern, Kajakfahren, Canyoning, Geocachen stehen an – nicht zu vergessen Riverbugging.

Ich lass alles hinter mir
„Stellt euch vor, ihr fahrt rückwärts mit dem Fahrrad!“ Stephan Thieme, Bundesfachleiter Kanusport, hat an diesem Morgen neun Aspiranten des Riverbug-Weltcups 2022 um sich versammelt.
Brav haben sie sich in die roten und gelben Halbschlauchbote geklemmt, mit Flossen und Paddelhandschuhen – um bei der ersten Bewegung sämtliche Disziplin über Bord zu werfen. Und die wichtigste Muskulatur – die des Zwerchfells – bekommt ein Sondertraining. Echtes Oxytocin-Naturdoping auf dem Šobecer Badeteich!

Es gibt nichts, was mich hält
„Mama, du weißt doch, dass wir eine NaturFreundekindergruppe bei WhatsApp haben?“
„Jetzt weiß ich’s“.
„Und Jenny und Nora und Jasmin und Janina sind jetzt auch dabei.“
„Aber ihr müsst hier jetzt doch nicht WhatsAppen?!“
„Mama!“
Tatsächlich langweilen sich die Smartphones schon lange in ihren Ladegeräten. Zehn Finger mal 18 Kinder haben einfach Besseres zu tun als zu Swipen:
„Den rechten über den linken Arm, wieder auseinander, und die Schlinge zusammenlegen wie ein Buch: Das ist der HMS-Knoten!“
Wir Erwachsenen, die wir allmählich entschleunigen aus unserem turbulenten Alltag, wir Erwachsenen haben wohl selten einen Menschen getroffen, der so viel Ruhe ausstrahlt, der auch dem schwächsten Grobmotoriker die Welt der Sicherungsknoten so klar erschließt wie Ausbilder Norbert Meyer.
Und so kommt es wohl, dass auch NaturFreunde, die weiland in der norddeutschen Tiefebene ihre ersten Schritte gingen, sich jetzt in der alpinen Vertikalen zurechtfinden.
Wie Linda, gebürtige Mecklenburgerin: In ihr schlummert offenbar eine veritable Gams. Deshalb winkt ihr am Ende der Woche der Kletterschein – wie 12 anderen, die hier am Fels in Bohinj Toprope und Vorstieg zu meistern gelernt haben.

Vergesst wer ich war
„Wir haben euch beobachtet – letztes Jahr“, Claudi und Ralf sind erfahrene Outdoorler – aber neue NaturFreunde, „wir waren zufällig zur gleichen Zeit hier auf dem Campingplatz. Das hat uns echt gut gefallen, was ihr da gemacht habt – außerdem wollten wir auch so ein grünes T-Shirt!“ Lachen. Wieder so ein extrem trainierter Muskel diese Woche …

Outdoorcamp Sommer
Jedes Jahr veranstalten Mitglieder der Bundeslehrteams der NaturFreunde-Fachgruppen Berg- und Kanusport gemeinsam ein Outdoorcamp Sommer für Jung und Alt. Hier kann man verschiedene Natursportaktivitäten kennenlernen und ausprobieren. Unter der fachkundigen Anleitung der Bundesausbilder besteht so die Möglichkeit, ein Programm zu absolvieren, für das man in einer kommerziellen Bergschule eine hohe Summe zahlen würde.

Vergesst meinen Nam‘
„Es gibt Dorfbewohner, eine Seherin, ein Hexe ….“ 18 Kinder zwischen 7 und 15 spielen Werwolf. Streit, Mobbing – das gibt es nicht. Dafür erleichterte Eltern. Ob beim Sport am Tag oder beim selbst organisierten Kinderlagerfeuer „Für Erwachsene verboten!“: Erziehungsberechtigte sind als solche kaum gefragt. Was beiden Seiten gut tut.

Ich seh‘ Orte, von den‘ andre nie hörten
Da fehlt doch noch was? Klar: Der Klettersteig, das Cayoning, das Bug-Ball-Turnier. Die nächtliche Radtour mir Geocaching …
Und jener Moment, als bei einer Führung durch Sloweniens Geschichte, dort, wo Dorfbewohner von Deutschen im Zweiten Weltkrieg hingerichtet worden sind, Lilly (11) ganz leise zu summen beginnt „Die Gedanken sind frei!“

Ich such das Weite und dann tank ich neue Kraft da
„Ich kann es kaum glauben: Mein Sohn bewegt seine Lippen!“ Andrea ist sprachlos. Alexander – im zivilen Leben Strafrichter – betätigt sich einmal mehr an der Klampfe. Mit topaktuellem Repertoire: Adel Tawil, Andreas Bourani, Mark Forster. Wir schmettern aus vollen Kehlen: „Es gibt nichts, was mich hält, au revoir …“ „Das ist generationenübergreifend!“ schwärmt Mechthild (70). „Oberaffengeil die ganze Woche!“ fügt Vera später hinzu, sie, die beim Wildwasser-Kajakfahren trotz mehrfachen Kenterns nie die gute Laune verlor. Und Johann (10) rapt: „Ich brauch Freiheit, ich geh‘ auf Reisen, ich mach alles das, was ich verpasst hab!“

Es wird nie mehr sein, wie es war
„Zehn!“ …. „Elf!“ … „Fünfzehn!“
Fünfzehn Sternschnuppen – für jedes Kind eine. Auf ihrem Matratzenlager aneinander gekuschelt schauen sie in den Himmel - klar und weit zwischen den Baumkronen. Eine Augustnacht voller Zauber. Wünsche behält jeder für sich.
Ich bin weg - Au revoir!

Epilog

Die Kichererbsen WhatsAppen jetzt wieder. Im Winter wollen sie sich treffen. In Wunsiedel.

*Die kursiv gesetzten Textteile sind Zitate aus dem Song "Au revoir" von Mark Forster

Imke Marggraf, Köln