Reiner Hoffmann: „Die Digitalisierung wird das kapitalistische Wirtschaften beschleunigen“

DGB-Chef Reiner Hoffmann warnt Arbeitgeber vor Blockade der Mitbestimmung

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Die Märzausgabe der NATURFREUNDiN (Mitgliedermagazin der NaturFreunde Deutschlands), beleuchtet in ihrer Titelgeschichte den Einfluss der Digitalisierung auf die herkömmliche Arbeit, unter anderem in einem Interview mit dem Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes Reiner Hoffmann.

NATURFREUNDiN: Die reale und die virtuelle Welt wachsen zur „Industrie 4.0“ zusammen. Was müssen wir uns darunter vorstellen?

Reiner Hoffmann: Wir befinden uns in einem weitreichenden technologischen Umwälzungsprozess. Die Digitalisierung zieht sich nicht nur durch alle Wirtschaftsbereiche, sondern geht über die klassische Industrie hinaus. „Industrie 4.0“ betrifft ganz stark den Dienstleistungsbereich und die persönliche Lebenswirklichkeit. Die große Frage ist: Ist dieser Umwälzungsprozess ein eruptiver oder ein evolutionärer Prozess.

Und?

Ich glaube, der Prozess ist evolutionär. Die Entwicklung hat vor zehn Jahren begonnen. Allerdings sind die Innovationsintervalle zuletzt immer kürzer ausgefallen.

Reiner Hoffmann (61) ist seit Mai 2014 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes und auch Vorsitzender der Kommission „Arbeit der Zukunft“ der Hans-Böckler-Stiftung.

Hoffmann tritt beim 30. Bundeskongress der NaturFreunde Deutschlands als Gastredner auf.

Jetzt vertreibt die Innovation den Menschen aus den Werkshallen. Bis zum Jahr 2030 werden in den USA laut Prognosen 47 Prozent aller Industriearbeitsplätze vom Roboter ersetzt. Was wird der Mensch in Zukunft arbeiten?

Wir müssen uns auf einen neuen Strukturwandel in der Arbeitswelt einstellen, die Berufe werden sich deutlich verändern. Die ganz entscheidende Frage wird sein: Gelingt es uns, die Potenziale, die mit technologischen Innovationen immer auch einhergehen, im Sinne der Beschäftigten zu nutzen? Oder erfolgt dieser Strukturwandel ausschließlich unter den Bedingungen dessen, was technologisch machbar ist.

Welche Potenziale sehen Sie?

Die Digitalisierung kann beispielsweise zur Befreiung von körperlich zutiefst anstrengender oder monotoner Tätigkeit führen, sie kann mehr Zeitsouveränität im Arbeitsleben schaffen. Sie kann aber auch ein neues digitales Proletariat hervorbringen: Menschen, die sich als Klick- oder Crowdworker, als Soloselbstständige unter den miesesten Bedingungen verdingen müssen. Deshalb sagt der DGB: Die Arbeit der Zukunft ist gestaltbar, der Schlüssel liegt in Qualifizierung, in Bildung und in mehr Mitbestimmung. Wir brauchen in der Zukunft ganz andere Kompetenzen.

Was aber ist mit den Menschen, die sich nicht qualifizierten lassen wollen? Wir erleben gerade ein Erstarken des Populismus, der jene vereint, die sich von Digitalisierung und Globalisierung überfordert fühlen.

Uns muss klar sein, dass viele der sehr einfachen Tätigkeiten, die einen hohen wiederholenden Anteil haben, wegfallen werden. Es ist keine Fantasie mehr, dass die Drohne das Paket bringt. Auch im Logistikzentrum kann ein Roboter zuverlässig und billig arbeiten. Die Frage ist aber: Wer bedient die Roboter? Wer baut die dafür notwendige Hardware?

Wir brauchen mehr „Job-Enrichment“, also die Anreicherung von Tätigkeiten in solchen Unternehmen. Ein Schreckensszenario nach dem Motto „Hilfe, die Arbeit verschwindet“ ist weder real, noch hilft es weiter.

In den nächsten fünf Jahren soll sich der Markt für Industrieroboter verzehnfachen. Diejenigen, die heute die Maschinen kaufen, machen das bestimmt nicht, um ihren Beschäftigten etwas Gutes zu tun.

Das ist Grundgesetzmäßigkeit des Kapitalismus: aus Geld noch mehr Geld zu machen. Die Digitalisierung wird dieses Prinzip in der globalen Wirtschaftswelt beschleunigen. Wir als Gewerkschafter müssen dagegen halten und die Vorteile der Digitalisierung für die Arbeitswelt nutzen.

Zum Beispiel?

Viele weibliche Beschäftigte sind in der Teilzeitfalle gefangen, weil sie sonst nicht flexibel auf den Lebensalltag ihrer Familien reagieren könnten. Andererseits schrubben viele Männer ungeheure Mengen an Überstunden. Allein im Jahr 2016 haben Frauen und Männer mehr als eine Milliarde Überstunden geleistet, das ist einfach inakzeptabel!

Ich kenne Betriebsräte, die mittlerweile in der Lage sind, in Konzernen mit aufgeklärtem Management eine Arbeitszeit-App zu nutzen, wo die Arbeitszeit in der nächsten Woche verteilt wird. Jemand hat am Dienstag einen Termin, ein anderer will am Donnerstag erst gar nicht kommen. Die App bietet die zu leistende Arbeit den Kollegen an und wer in der kommenden Woche Zeit hat und mehr Geld verdienen will, der kann tauschen. Ich muss die Kapitalisten dazu bringen, dass sie das Thema Zeitsouveränität nicht mehr nur aus Rentabilitätsgründen in den Vordergrund stellen, sondern auch aus sozialen.

Apropos „Industrie 4.0“: Was muss passieren, um „Soziale Arbeit 4.0“ zu erreichen?

Der Wert von Arbeit ist völlig unterbewertet. Sie sehen das etwa in den Pflegeberufen. Eine alternde Gesellschaft braucht eine vernünftige Betreuung, gut ausgestattete Einrichtungen und qualifiziertes Personal. Weil die Pflegeberufe aber völlig unterbewertet sind und die Leute schlecht bezahlt werden, mangelt es dort.

Wir brauchen also eine andere Wertschätzung von Arbeit - gerade im Bereich der sozialen Dienstleistung. Was mich als Gewerkschafter persönlich betroffen macht: Die Zahl derer, die von ihrer Arbeit nicht mehr leben können, liegt in Deutschland bei 1,2 Millionen Menschen. Arbeit hat ihren Wert, der aber nicht immer bezahlt wird.

In Japan gibt es erste Pflegeroboter, eingesetzt in Altersheimen. Vom Philosophen Robert Kurz stammt die Prognose: „Der Verkauf der Ware Arbeitskraft wird im 21. Jahrhundert in etwa so erfolgreich sein, wie der Verkauf von Postkutschen im 20. Jahrhundert.“ Brauchen wir das Bedingungslose Grundeinkommen?

Da lag Kurz genauso falsch, wie die Publizistin Hannah Arendt in den 50er-Jahren, wie der Soziologe Ralf Dahrendorf in den 60er-Jahren oder der ökologische Vordenker André Gorz in den 70er-Jahren. Drei große Theoretiker, die als Folge der Entwicklung die Befreiung des Menschen von der Arbeit vorhersagten. Das hat sich nicht bewahrheitet. Ich glaube nicht, dass uns in den nächsten Jahrzehnten die Erwerbsarbeit ausgeht.

Die Frage ist: Wie und unter welchen Bedingungen produzieren wir was? Darum muss die gesellschaftliche Auseinandersetzung gehen. Das Bedingungslose Grundeinkommen halte ich für ein Ablenkungsmanöver, das ich außerordentlich kritisch sehe - insbesondere wenn Leute wie der Chef der Deutschen Post AG Frank Appel das Grundeinkommen propagieren. Dahinter steckt doch Folgendes: Die Freisetzung der Ware Arbeitskraft soll quasi in einen Fürsorgestaat überführt werden, wo die Menschen nur noch alimentiert werden und gefälligst die Klappe halten. Das kann es wohl nicht sein!

Gibt es im Jahr der Bundestagswahl Partner in der Politik?

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat im vergangenen November das Weißbuch zur Arbeit 4.0 vorgelegt, mit wichtigen Elementen, an denen wir jetzt weiter arbeiten müssen. Die Reaktion der Arbeitgeber hat gezeigt, dass die Ministerin nicht ganz falsch liegen kann: Das Weißbuch macht sich stark für Arbeitszeitsouveränität, Bildung, Qualifizierung und mehr Mitbestimmung durch die Arbeitnehmer. In einer sich rasant entwickelnden Arbeitswelt brauchen wir dringend eine Weiterentwicklung und Modernisierung der Mitbestimmung.

Hier kann ich den Arbeitgebern nur sagen: Hört auf mit eurer Arbeitsverweigerung, indem ihr auf der einen Seite immer konstatiert, dass sich die Arbeitswelt drastisch ändert, andererseits aber soll sich bei der Mitbestimmung nichts ändern dürfen. Das passt nicht zusammen. Im politischen Spektrum sehe ich tatsächlich Partner, die dies verstanden haben.

Interview: Michael Müller & Nick Reimer

Das Interview erschien zuerst in der NATURFREUNDiN 1-17. Leserbrief schreiben