3.523 Kilometer auf dem Appalachian Trail

Wie eine NaturFreundin den „Green Tunnel“ durchwanderte – trotz Spinnenbiss

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Fünf Millionen Schritte sollen es sein. Dann sei der „Appalachian Trail“ durchwandert, heißt es. Doch wer zählt schon seine Schritte auf dem ungekrönten „König der Fernwanderwege“? Diese 3.523 Kilometer lange Trekkingroute im Osten der USA, die dem Mittelgebirgszug der Appalachen vom Südstaat Georgia bis nach Maine an der Grenze zu Kanada folgt, durchquert ganze 14 US-Bundesstaaten.

3.000 Menschen pro Jahr versuchen sich an einer Durchwanderung, dem sogenannten „Thru- Hike“. Und jedes Jahr werden es mehr. Im Durchschnitt sechs Monate dauert so eine Weitwanderung mit Rucksack, Zelt und Schlafsack. Die Prioritäten verschieben sich dabei sehr schnell: Campschuhe, Teller, Tassen, Ersatzkleidung oder Duschgel fliegen spätestens beim ersten „Shake-Down“ aus dem Rucksack. Dann wird das Gepäck auf ein Minimum reduziert, jedes Gramm analysiert und diskutiert. Tatsächlich: Selbst der Tipp, den Zahnbürstengriff abzusägen, ist ernst gemeint. Denn der wahre Luxus beim Wandern liegt im Nicht-Tragen.

In der Natur sind alle gleich

Thru-Hike in 173 Tagen
Renate Nature Kochenrath aus Mainz, NaturFreundin, Wanderleiterin und Autorin dieses Artikels startete ihren Thru-Hike am 30. März 2016 am Springer Mountain, dem südlichen Ende des Appalachian Trails. 173 Tage später bestieg sie Mount Katahdin am nördlichen Ende des Trails. Unterwegs traf sie neben vielen faszinierenden Menschen auch freche Schwarzbären, Respekt einflößende Schlangen und musste wegen eines Giftspinnenbisses eine Woche pausieren.

Die letzten 2.000 Kilometer begleitete sie ein Mitwanderer namens Ummgahwah, den sie auf dem Trail kennengelernt hatte – und mit dem sie nun verheiratet ist. Beide planen im Jahr 2020 den Pacific Crest Trail, den großen Bruder des Appalachian Trails an der Westküste der USA, zu erwandern.

„Hike Your Own Hike“ – wandere deine eigene Wanderung: So lautet das Motto der Thru-Hiker. Der Appalachian Trail bietet jedem genügend Raum und Zeit, den eigenen Wanderstil und -rhythmus zu finden. Rat gibt es in Herbergen, Outdoorläden und natürlich von Mitwanderern. Und so haben die Fragen, wie viele Meilen man am Tag wandern kann, wie viele Ruhetage man einlegen sollte oder wie schwer der Rucksack sein darf, mindestens so viele Antworten wie Wanderer auf dem Trail.

In der Natur sind alle gleich, unwichtig werden Herkunft, Einkommen, Alter und Nationalität. Mit jedem Schritt verschwindet ein Stück Alltagsidentität und es formt sich ein neues Trail-Ich. Spätestens wenn einem ein anderer Wanderer einen Trailnamen gibt, ist die Identitätspause offiziell. Was immer zum Aussehen oder Wesen des Wanderers passt, ist bei dieser Taufe erlaubt und führt zu so fantasievollen Namen wie Finch (Finke), Blue Turtle (blaue Schildkröte) oder Stormcrow (Sturmkrähe).

Auf dem Trail begegnen sich die 16-jährige Pebbles und das Rentnerehepaar Braids (65) und Whitecap (70), pensionierte Postboten treffen auf Mitarbeiter der US-Raumfahrtbehörde NASA im Sabbatical und College-Absolventen nutzen das Interim, um sich auf ihrem Lebensweg zu orientieren. Den typischen Thru-Hiker gibt es nicht. Und auch kein geheimes Erfolgsrezept. Weder die Qualität der Ausrüstung noch die Dauer der Vorbereitung oder der Reichtum an Erfahrung lassen ein Muster erkennen, wer wirklich den gesamten Trail wandern wird. Zu vieles kann unterwegs passieren.

Start im März

Die erste komplette Durchwanderung des Trails fand vermutlich in den späten 1940ern statt. Bis zum Jahr 2015 verzeichnete die Appalachian Trail Conservacy insgesamt 15.524 gemeldete Durchwanderungen. Doch nur jeder vierte Wanderer, der den Trail mit dem Ziel eines Thru- Hikes startet, erreicht auch tatsächlich das Ziel. Neben Verletzungen und Geldmangel sind es vor allem mentale Gründe, die zum Abbruch führen.

Zwei Kräfte geben aber immer wieder neue Energie: die Natur und die Mitmenschen. Da ist zum einen die Faszination, mit den Jahreszeiten zu wandern. Der Thru-Hike beginnt meist im März, wenn die Natur schläft und tristes Grau und Braun dominieren. Manchmal liegt sogar noch Schnee in den Bergen. Der morgendliche Zeltabbau ist ob steifgefrorener Hände dann eine schmerzhafte Herausforderung.

Doch allmählich erwacht die Natur. Im Tal blühen erste Blumen, zaghaft zeigen sich grüne Blätter und plötzlich explodieren Farben und Düfte. So viel Neues, das entdeckt werden möchte. So viele Fotos, die man nicht nicht machen kann. Nicht umsonst hat der Appalachian Trail den Spitznamen „Green Tunnel“ – grüner Tunnel.

Der Trail fuhrt bis in den „Indian Summer“

Umgeben von prächtigen Rhododendronsträuchern führt der Weg durch Frühling und Sommer. Schließlich erste Annäherungen an essbare Pflanzen, vorsichtig, denn was in Deutschland essbar ist, muss es in den USA nicht unbedingt auch sein. Experimente mit Sassafrasblättern im Teewasser, wildem Lauch, der mit seinem Knoblaucharoma die Tütennahrung aufpeppt und dann im Hochsommer die Beeren! Heidelbeeren! Brombeeren! Maulbeeren! Mit etwas Glück wartet im Bundesstaat Maine sogar schon das Farbspektakel des „Indian Summer“, wenn sich die Baumkronen farblich in loderndes Feuer verwandeln.

In Erinnerung bleiben aber insbesondere die Begegnungen. Was für Charaktere es in die Wildnis verschlägt! Und wie sehr einen die gemeinsame Erfahrung zusammenschweißt. In der Sprache des Appalachian Trail hat sich das Wort „Tramily“ (zusammengesetzt aus „Trail“ und „Family“) eingebürgert. Menschen, von denen man nicht mal den wahren Namen kennt, wachsen einem so sehr ans Herz, dass man sie nie wieder vergessen kann. Gemeinsam erlebt man Hochgefühle und Tiefschläge, unterstützt sich, sorgt füreinander, übernimmt Verantwortung, denkt im „wir“ und nicht im „ich“. Es herrscht eine (emotionale) Großzügigkeit, wie sie im normalen Leben ihresgleichen sucht.

Neben der „Tramily“ sind es vor allem die „Trail Angels“, die einem das Gute im Menschen vor Augen führen. Menschen, die hungrige Wanderer mit Essen versorgen, im trockenen Hochsommer Wasserkanister an den Wegesrand stellen, oder gar das eigene Zuhause völlig fremden und ungewaschenen Wanderern als Herberge anbieten – ohne eine Gegenleistung zu erwarten.

Und auch der Trail selbst lebt von der Liebe der Menschen zum Wandern und zur Natur. Es sind fast ausschließlich freiwillige Helfer, die den Trail pflegen und erneuern. 200.000 Stunden ehrenamtliche Arbeit kommen dabei pro Jahr zusammen.

Renate Kochenrath, NaturFreunde Mainz
Der Artikel ist zuerst erschienen in NATURFREUNDiN 1-2017

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Kochenrath Appalachian Trail

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