Klettern mit jungen Geflüchteten

Ein Erfahrungsbericht zur Integrationsrealität

Klettern mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen in Dortmund
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Als ich im September 2014 davon hörte, dass in meinem gründerzeitlichen Wohnquartier in der Dortmunder Südstadt ein Flüchtlingsheim in einer alten Schule eingerichtet werden sollte, entschloss ich mich spontan dort freiwillige Hilfe zu leisten.

Schon 2014 war die Unterstützung aus der Nachbarschaft des Heimes sehr groß. Es gab kaum Bedenkenträger aus der Wohnbevölkerung des Stadtbezirkes, im Gegenteil. Die Einrichtung wurde mit Sachspenden – in Form von Kleidung, Kinderspielzeug und so weiter – förmlich überschüttet. Darüber hinaus boten sich viele Freiwillige als Helfer für wichtige Aufgaben innerhalb der Einrichtung an.

Da die personelle Ausstattung des Flüchtlingsheims in Trägerschaft eines Migrantenvereines völlig unzureichend war, waren die freiwilligen Helfer sehr willkommen. Ohne die Bandbreite ihres Hilfsengagements, das über Kleider- und Essensausgabe bis hin zum Deutschunterricht, Umzugshilfen, begleiteten Behördengängen und vielem anderen reicht, wäre die Erstaufnahme von Tausenden von Flüchtlingen in unserem, aber auch den anderen Flüchtlingsheimen Dortmunds schon in diesem Stadium gescheitert.

Dieter Staubach hat jahrelang als Stadtplaner in der Dortmunder Nordstadt, dem ärmsten Stadtteil der Ruhrmetropole an der Emscher, gearbeitet. Gleichzeitig hat er in dem benachteiligten Stadtteil an einer vereinseigenen Kletterwand als ehrenamtlicher NaturFreunde-Übungsleiter für Klettersport mit Kindern und Jugendlichen trainiert, die häufig aus dem Migrantenmilieu der Nordstadt stammen. Zurzeit führt er in Brennpunktschulen Dortmunds ein Projekt zum Erlernen partizipatorischer Planungsdemokratie durch. Dabei haben die Klassen zum Teil bis zu 80 Prozent Schüler und Schülerinnen mit Migrantenhintergrund. Er gehört dem Verein „Projekt Ankommen“ an und organisiert hier die Integration von unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen in Dortmunder Sportvereine.

Kommunen unter Sparzwang
Dass die Kommunen in Deutschland aufgrund eines diktierten Sparzwanges unterfinanziert sind, merkt jeder Bürger, wenn er durch die Schlaglöcherstraßen seiner Gemeinde fährt, so auch in Dortmund. Aufgrund dieses Sparzwanges und dem damit verbundenen fehlenden Personal ist die kommunale Pflichtaufgabe der Flüchtlingsaufnahme von den Stadtverwaltungen ausgelagert worden. Zu wenig eigenes Personal, zu wenig Geld.

Man vergibt diese Pflichtaufgabe an externe Träger, wie Wohlfahrtsverbände, aber auch an gewinnorientierte private Unternehmen. Die Folge war und ist, dass die dafür völlig unzureichend kalkulierten öffentlichen Gelder in den Einrichtungen zum Teil zu desaströsen Zuständen geführt haben. Öffentliche Medien haben bundesweit über solche Fälle berichtet.

In dieser Gemengelage aus Willkommenskultur, überforderten Politikern und Sozialämtern, aber auch den organisatorischen Schwächen der Leitungsgremien in den Flüchtlingseinrichtungen entschloss ich mich ein Hilfsangebot zu machen. Ich wollte mit Flüchtlingskindern und -jugendlichen Sport treiben, genauer gesagt Klettersport.

Da ich als NaturFreunde-Übungsleiter für Sportklettern über eine mehr als 20-jährige Erfahrung in der Kinder- und Jugendarbeit verfüge, stand mein Entschluss schnell fest. Das Leitungsteam der Flüchtlingseinrichtung war erst mal begeistert, als ich ihnen mein Angebot unterbreitete.

„Schlafanzugsyndrom“
Man berichtete mir über das „Schlafanzugsyndrom“ bei einigen Flüchtlingskindern und -jugendlichen. Aufgrund einer fehlenden Tagesstruktur, wie morgens der normale Gang zur Schule und Freizeitaktivitäten im Laufe des Nachmittags, sahen diese Kinder und Jugendlichen wohl keinen Sinn mehr darin sich anzuziehen. Sie blieben in ihren Schlafanzügen und langweilten sich innerhalb der Einrichtungen durch den Tag. Spannungen und Streitigkeiten blieben nicht aus.

In relativ kurzer Zeit entwickelte ich ein Konzept. Erst einmal mussten UnterstützerInnen innerhalb unserer NaturFreunde-Klettergruppe für das Vorhaben gewonnen werden. Auch der Transport der Flüchtlingsjugendlichen von der Kletterhalle und zurück war zu organisieren. Versicherungsrechtliche Fragen, aber auch die Kommunikationsprobleme mit den Flüchtlingsjugendlichen waren zu klären. Da uns die Flüchtlingseinrichtung keine Übersetzer stellen konnte oder wollte, waren wir auf schlechte Übersetzungsprogramme, wie dem Google-Übersetzer oder auch andere, angewiesen. Auf finanzielle Unterstützung für unser Vorhaben brauchten wir nicht zu hoffen.

Kurz und gut, mal einfach so mit den Flüchtlingsjugendlichen Klettern gehen war nicht. Ich hatte mich auf ein Projekt eingelassen, was einiges an Herausforderungen und Improvisationsfähigkeiten von meinen MitstreiterInnen und mir verlangen würde.

Nach einer ersten Vorstellungsrunde bei den interessierten Jugendlichen mit einer Diashow zum Klettersport wurde einige Tage später ein erster Klettertermin durchgeführt. Zwar hatte die Einrichtungsleitung die Jugendlichen trotz des lange bekannten Klettertermins in den Deutschunterricht geschickt, aber nach einer Stunde Verzögerung standen wir alle endlich vor unserer Kletterwand. Bald stellte sich wieder gute Laune ein. Die beteiligten Flüchtlingsjugendlichen waren begeistert.

Inzwischen haben weitere Kletteraktionen stattgefunden. Auch, allerdings nur einmalig, in einer privaten großen Kletterhalle in Dortmund. Letzteres war, aufgrund zu hoher Eintrittspreise und den fehlenden öffentlichen Mitteln für die Flüchtlingsjugendlichen eine einmalige Aktion.

An diesem kleinen Beispiel zeigen sich die Schwächen öffentlicher Daseinsversorgung in unserer Gesellschaft auch für die Ärmsten der Armen auf. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, die im Regelfall zu den Ärmsten unserer Gesellschaft zählen, werden in Zukunft von den guten Hallenklettersportanlagen ausgegrenzt sein. Es sei denn, sie können pro Trainingseinheit 12 Euro bezahlen, um in der großen, modernen Kletterhalle klettern zu dürfen. Eine Zweiklassengesellschaft im Klettersport, die allerdings für andere Unterschichtsgruppen, auch deutsche, genauso zutrifft.

Flüchtlingsintegration darf nicht von einer Charity-Kultur abhängig sein
Hier bekommt die vollmundige Erklärung unserer Kanzlerin zur Integration der Flüchtlinge „Wir werden das schaffen“ eine ganz neue Bedeutung. Ja, warum sollte Deutschland es als eines der reichsten Länder nicht schaffen? Eben, aber wieder mal nur nach dem gesellschaftlichpolitischen Diktat der vorherrschenden Austeritätspolitik: Dem unteren Drittel der Gesellschaft im sozialen und kulturellen Sektor das wegnehmen, was man dem oberen Drittel, den Reichen und Superreichen zum Steuergeschenk macht.

Nach anderthalb Jahren ehrenamtlicher Flüchtlingsarbeit ist mir eines klar geworden: Wir brauchen einen deutlich stärkeren öffentlichen Sektor, der der zukünftigen sozialen und kulturellen Ausgrenzung der vielen tausenden Flüchtlingskinder und -jugendlicher vorbeugen kann. Mit Spenden, Sponsoring und den Stiftungen der Reichen werden diese Aufgaben nicht zu stemmen sein. Ein gut durchfinanziertes Gemeinwesen braucht sich nicht von einer fragwürdigen Charity-Kultur abhängig zu machen.

Wenn der deutsche Staat nicht bedeutend mehr Geld für die Flüchtlingsintegration in die Hand nimmt, werden ihm Stadtteile wie die Dortmunder Nordstadt, das Rollbergviertel in Berlin-Neukölln oder die Nordweststadt Frankfurts in spätestens fünf bis zehn Jahren um die Ohren fliegen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Frankreich hat es uns mit seiner gescheiterten Integrationspolitik in den Banlieues ihrer Großstädte vorgemacht. Die Politik unseres Landes würde gut daran tun, aus diesen Fehlern unserer Nachbarn zu lernen.

Dieter Staubach, 25.01.2016